Beste vrinden en kenissen,
in Amsterdam ist die Welt noch in Ordnung: Man kann alleine oder zu fünft mit einem Tandem fahren, beim Friseur (heißt übrigens „Kipsalon“) gibt es Kinderbetreuung mit Live-Clown und beim Lager des Heils kann man sich sein Stück vom Kuchen des Glücks abholen (wenn man beitritt und irgendetwas unterschreibt, was ich mir weder durchgelesen noch unterschrieben habe). Wenn man sich dann noch, wie ich vor einiger Zeit aufgrund des tollen Wetters, aufs Fahrrad schwingt und einfach losfährt fährt, dann kann es sein, dass man eine kleine Welt entdeckt, in der noch alles viel mehr in Ordnung ist: Das Dorf Durgerdam am Durgerdammerdijk. Die entzückenden Häuschen dort scheinen alle frisch gestrichen zu sein, die entzückenden Kleinfamilien leben dort mit ihrem entzückenden Kind und dem großen (aber entzückenden) Hund, sie fahren alle BMW oder Mercedes und haben ein Sportboot am kleinen Privatsteg. Alles sieht aus wie aus einem Bilderbuch, die Farben sind schöner (genauso wie die Frauen), das Wetter besser, das Meer beruhigender. Jung und Alt friedlich nebeneinander. Ich habe noch nie ein schöneres Dorf gesehen – und gleichzeitig auch keines, das so beunruhigend ist. Man fühlt sich wie in dem Film „Die Frauen von Stepford“. Leider hat der Mittag nicht ausgereicht die düsteren Geheimnisse dieser Idylle aufzudecken, ich habe meine Investigationen mit der genauen Beobachtung eines Stück Apfel-Zimt-Rosinen-Streuselkuchen abgeschlossen und die Beweise anschließend vernichtet.
Insgesamt kann ich mit gutem Gewissen sagen, dass ich die Sommertage hier in vollen Zügen genossen habe – mit Fahrradfahren, Spazierengehen, draußen lesen und lernen... Jetzt kann der Amsterdamer Herbst kommen, ich werde ihm mit meinem neuen Regenschirm, wasserdichter Jacke, hohen Stiefeln und einem Fahrradsattelgumminässeschutz (sowas kanns auch nur hier geben) trotzen.
Was die Uni angeht ist die Hälfte des Semesters nun vorbei, und ich habe in jedem Fach ein sogenanntes Midterm-Exam abgelegt und die erste von zwei Hausarbeiten abgegeben. Und im Gegensatz zu Deutschland (wo ich teilweise 1,5 Jahre auf eine Note warten muss) sind die Dozenten hier sehr schnell im Korrigieren (maximal 1,5 Wochen), so dass ich bereits weiß, dass die Welt immer noch in Ordnung ist. Nachdem ich nun dachte, dass ich mich von der anstrengenden Prüfungsphase erst mal ein bisschen erholen kann, wurde mir heute in meinem neuen Kurs „Fallacies“ (invalid moves in a critical discussion) mitgeteilt, dass ich bis nächste Woche zwei Bücher (für die ich 120 Euro bezahlt habe) und 6 Artikel mit je etwa 40 Seiten lesen (und verstehen) muss. Tja. So ist das eben, an der Amsterdamer Uni. Man lernt in einem Kurs der ein halbes Semester dauert, soviel wie im gesamten Grundstudium in Tübingen.
Trotz des strengen Unialltags versuche ich, alles hier zu genießen... So kommt es, dass ich mitten in der Nacht picknicken fahre, mit den Leuten auf meinem Flur Guitar Gero spiele, Fotoausstellungen und Vernissagen besuche, Brettspieleabende veranstalte und Bücher lese (die seit mindestens einem Jahr auf meiner Leseliste stehen). Oder nach Durgerdam radle. Und so kommt es auch, dass ich eine „Super Grand Holland“-Bustour für nächste Woche gebucht habe, die mir an einem Tag eine Windmühlenstadt, Den Haag, eine Holzschuhherstellerei, einen Tulpenmarkt, eine Käserei und noch eine Stadt, deren Name mir entfallen ist, zeigt. Ich bin gespannt, mit wem ich da im Bus sitzen werde... Der Bericht folgt dann.
Und weil hier einfach so viele kleine Dinge passieren, an die ich mich immer wieder mehr oder weniger gerne zurückerinnern werde, hier meine Top 3 seit dem letzten Bericht:
Auf Platz 3: Seltsame Vorgänge
Mir war lange Zeit unerklärlich, warum viele Holländer mir sagten, dass sie jetzt gehen sollten (I should leave) nachdem sie mir etwas gegeben haben. Meine erste Vermutung war, dass sie mit dem Kassenbon, dem Einkauf oder dem Ticket heimlich irgendetwas anderes mitgeben, vielleicht etwas illegales. Und um dann nicht mit mir in Zusammenhang gebracht zu werden müssten sie schnell gehen... Mein zweiter Verdacht war noch größenwahnsinniger, die Illuminaten und eine kollossale Verschwörung spielten darin eine entscheidene Rolle. Alles Unsinn, natürlich. „I should leave“ sagen die Holländer nämlich, wenn sie eigentlich „alstublieft“ sagen, und das wiederum heißt nichts andere als „Bitte“.
Auf Platz 2: Wirre Gedanken
Während meiner Klausuren- und Hausarbeitsphase war ich immer sehr in Gedanken und geistig überstrapaziert. Das führt zu mitunter seltsamen Ideen, die sich beispielsweise in folgender Gegebenheit manifestieren: Mein Kurs an der Uni im Spui-Gebäude (ui wird übrigens wie aaooouui gesprochen, ich mache das bei Gelegenheit mal vor) war vorrüber, und ich musste noch kurz ins Sekretariat ein Stockwerk höher. Nun stellte sich eigentlich nicht wirklich die Frage ob Treppe oder Aufzug, da es sich ja nur um ein Stockwerk handelte. Am Treppenhaus angekommen sah ich gerade zwei andere Studenten die Treppe herunterkommen, dachte mir „Ah ja, die Treppe geht nur runterwärts, da kann ich ja nicht hochgehen“, was mich dazu brachte doch den Aufzug zu wählen. Dass Treppen bidirektional sind, fiel mir tatsächlich erst im Sekretariat ein.
Auf Platz 1: Der „Prophet
Was ein Marktplatz mit Brunnen für eine kleinere Stadt ist, das ist der Damsquare mit seinem Denkmal für Amsterdam. Hier beginnen die meisten Stadtführungen, es gibt Bettler und Musikanten, eine Tramhaltestelle, ab und an einen kleinen Jahrmarkt und Menschen die sich silbern anmalen und ganz still stehen bis man ihnen Geld gibt. Natürlich gibt es auch diejenigen, die erst still sind, wenn man ihnen Geld gibt, und genau so einer ist „der Prophet“. Mit langem Bart und lauter Stimme steht er dann auf seiner Bierkiste, erhebt den Zeigefinger, schreit herum, hüpft auf und ab, sein Kehlkopf schwillt an, er wird ganz rot im Gesicht und wenn man denkt jetzt fällt er gleich von seiner Kiste kommt jemand, und gibt ihm etwas Geld. Dann beruhigt er sich, unterhält sich mit demjenigen, bis das Spektakel von vorne beginnt. Da ich kein niederländisch spreche, verstehe ich auch nicht so ganz, was er da sagt, aber ich habe immer vermutet es hätte was mit Sünden und Gott zu tun – das war es, was mir seine Mimik und Gestik gesagt hat. Irgendwann konnte ich meine Neugier dann nicht mehr zügeln, und fragte ihn, ob er Englisch oder Deutsch spreche. Er wurde ganz hektisch, nickte, und sagte „English, yes, yes, English!“. Daraufhin fragte ich ihn, was sein Anliegen hier wäre, woraufhin sich ein Englisch-Niederländischer Redeschwall ergoss, dem ich folgendes entnehmen konnte: Der gute Mann will nicht etwa jemanden bekehren oder das politische System anprangern, sondern er sucht eine Frau. Und was er da hinausschreit seien seine Wünsche die Frau betreffend, sowie eine Beschreibung seiner eigenen Vorzüge. Und ich würde zwar nicht seinem Typ entsprechen, aber wenn ich wollte, könne ich ihm meine Nummer geben. Daraufhin war ich diejenige, die rot geworden und schleunigst gegangen ist.
Soviel zu meinem vierten kleinen Bericht aus dieser charmanten, liebenswerten und absolut verrückten Stadt, die mir so sehr ans Herz gewachsen ist, wie ich mir das nie gedacht hätte. Wer gerne ein Date mit dem Propheten hätte soll mir einfach Bescheid sagen... und vorbeikommen.
Ansonsten bis zum nächsten Mal,
Anne
PS: Dieses mal ein Foto von meiner Radtour.